Marthe und David, ein Paar Anfang 50, aus Berlin, müssen Privatinsolvenz
anmelden. Das kompostierbare Geschirr erweist sich als ein Flop, für den es
keinen Markt gibt. Die Berliner Wohnung können sie sich nicht mehr leisten, der
Gerichtsvollzieher nimmt ihnen die Designermöbel weg. So zieht das Paar in ein
kürzlich geerbtes, kleines Häuschen in der ostdeutschen Provinz. Wer jetzt eine
romantische Wendung der Lebenskrise erwartet, liegt falsch. Es folgt nämlich
kein romantisches Landleben mit Biogemüse aus dem eigenen Garten und der
Rückkehr zum Wesentlichen.
"Das Dorf ist eine tote Tante, die Häuser vererbt, in denen man dann zugrunde geht."
Was stattdessen folgt, ist reine Trostlosigkeit. In dem Dorf
gibt es wenig Lebendigkeit, die Fensterläden sind meistens geschlossen, die
Autorin lässt die Leser*innen jedoch hinter die Fensterläden blicken. Im Dorf
ist fast jeder arbeitslos, einige Männer sind in einer Biogasanlage umgekommen
und die Frauen treffen sich täglich im "Konsum", der seinem Namen keine Ehre
macht, da es fast Nichts zu konsumieren gibt. Viele im Dorf haben ein Alkoholproblem,
um das Leben dort überhaupt ertragen zu können. Sogar das Internet verweigert
sich dem Dorf und Marthe, die sich ansonsten gerne mit den schlimmsten
Nachrichten des Tages beschäftigt, muss täglich auf einen Hügel klettern, um
sich mit Informationen zu versorgen. Die Frauen im Dorf fürchten den Tag, an dem es dort flächendeckendes Internet geben wird.
"Im Internet kann man alles haben, und es bleibt geheim. Geheimer, als sich in einem Wohnwagen von einer abgenutzten und somit ungefährlichen Hausfrau mal einen runterholen zu lassen. Mit dem Internet werden die Frauen die Kontrolle über ihre Männer verlieren."
Dann sollen Flüchtlinge im Dorf untergebracht werden und es
entwickelt sich eine Dynamik, die mich sehr an den Roman "Unterleuten" von Juli
Zeh erinnert hat. Die Charaktere im Dorf
sind von der Autorin sehr gut beschrieben, sie wechselt die Perspektiven und erzählt
zum Teil eine Begebenheit aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
Marthe beobachtet das Leben im Dorf und unternimmt zumindest
Versuche daran teilzuhaben. Ihr Mann zieht sich immer mehr zurück und spricht
immer weniger. Die Beiden müssen neben dem finanziellen Abstieg auch einen sozialen
Abstieg verkraften und kommen auch als Paar in eine Krise.
Der Roman ist definitiv keine leichte Sommerurlaubslektüre, aber sehr lesenswert und sprachlich ausgefallen. Ich habe die Bilder des Dorfes vor meinem inneren Auge gesehen und konnte die düstere Stimmung spüren. Kathrin Gerlof hat einen Roman mit Realitätsbezug geschrieben, der mir mal wieder vor Augen geführt hat, dass es in Deutschland Lebensräume gibt, in denen Frust und Trostlosigkeit im Vordergrund stehen.
Inhalt:
"Über die Halbwertzeit der Liebe und den Eigensinn der Hoffnung.
Marthe und David befinden sich im freien Fall und müssen Privatinsolvenz anmelden. Notgedrungen ziehen sie an den Rand eines Dorfes in ein gerade noch bewohnbares Haus, das David geerbt hat. Selbst das Internet macht einen Bogen um die Gegend.
Das Dorf – umzingelt von genmanipulierten Maisfeldern für Biogasanlagen – scheint seine Seele verloren zu haben. Die Bewohner überlassen es zwei Großbauern, ihre Angelegenheiten zu regeln. Als in ehemaligen Zwangsarbeiterbaracken Flüchtlinge untergebracht werden, zieht mit ihnen Verunsicherung ins Dorf. Marthe, geduldete Außenseiterin und unablässig auf der Suche nach den schlimmsten aller Nachrichten, erlebt, wie die Lethargie weicht. David jedoch verstummt mehr und mehr, und eines Abends liegt ein Zettel auf dem Küchentisch.
Ein großer Roman über den Verlust der Mitte und ein Leben am Rand."
Quelle: https://www.aufbau-verlag.de/index.php/nenn-mich-november.html
Über das Buch:
Gebunden mit Schutzumschlag, 350 Seiten
Verlag: Aufbau Verlag
ISBN 978-3-351-03723-9
20,00 €