Samstag, 24. November 2018

Christopher Wilson - Guten Morgen, Genosse Elefant





Warum es sich zu lesen lohnt:

 

Das Buch nimmt uns mit auf eine Reise in die 50er Jahre der Sowjetunion. Der Erzähler ist Juri Zipit, ein 12jähriger Junge, der durch eine Verkettung von Zufällen zum Vorkoster Stalins wird und Einblick in die geschichtlichen Ereignisse dieser Zeit erhält. 

Die Grausamkeiten dieses totalitären Systems aus der Sicht eines naiven Kindes zu beschreiben, ist ein besonderer Erzählstil, der mir sehr nahe gegangen ist. Immer wieder jedoch werden ernste Passagen von humorvollen und satirischen Zeilen abgelöst. 

Die Gespräche, die der nach einem schlimmen Unfall geistig etwas beschränkte Juri mit Stalin führt, haben mich sehr berührt, auch wenn es sich dabei meist eher um Monologe von Stalin handelt. Juri hat die Gabe, dass die Menschen um ihn herum ihm ihre innersten Gedanken mitteilen:


""Liebe ist das größte Übel."
"Sind sie sicher?"
"Liebe ist der Joker, die chaosstiftende Karte im Stapel, der große Durcheinanderbringer. Sie ist wie Kleister, klebriges Zeug, das jedes Getriebe verstopft...Sie erfüllt keinen politischen Zweck, lernt nicht aus der Geschichte und schert sich nicht um den Klassenkonflikt...Sie fühlt ohne Erlaubnis, denkt das Undenkbare, spricht ungefragt, verzeiht alles, akzeptiert Ungehöriges...Sie breitet sich wie eine aggressive Seuche aus, nur kann man sich nicht dagegen impfen lassen, kann sie nicht per Gesetz verbieten, kann sie nicht verjagen. Man kann sie nicht mal an die Wand stellen und ihr das Hirn rauspusten."
"Mag sein...", erwidere ich. Ich schätze, um hier mitreden zu können, bin ich zu jung.
"Also müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen nicht länger lieben. Zumindest einander nicht mehr lieben..."
"Ehrlich?"
"Und wir müssen dafür sorgen, dass sie aufhören zu denken. Denken kann genauso schlimm sein, wie lieben. "
"Ja?"
"Ideen sind mächtiger als Waffen. Wir lassen nicht jeden eine Waffe tragen, warum sollten wir sie also Ideen haben lassen?""

Der Autor bleibt nicht immer bei der Wahrheit in seiner Geschichte, vieles ist Fiktion und sehr überspitzt dargestellt, was dem Roman seinen satirischen Aspekt verleiht. Der Roman gibt aber dennoch Einblick in die  Geschichte der Sowjetunion und hat mir Lust darauf gemacht, ein paar Dinge, z.B. die Umstände von Stalins Tod, noch einmal genauer nachzulesen.

Dieses Buch hat mich mit auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle genommen. Ich mag Bücher, die mich berühren und zum Nachdenken anregen, beides ist dem Autor hier gelungen.


Inhalt:


"Der rührendste Romanheld aller Zeiten.
Die lustige, traurige, spannende, lehrreiche, herzzerreißende Geschichte von Juri Zipit, der ein paar Wochen in Stalins Datscha verbringt und sein Vorkoster Erster Klasse wird. »Mein Name ist Juri Zipit. Ich bin zwölfeinhalb Jahre alt und lebe in einer Personalwohnung im Hauptstadtzoo gleich gegenüber vom Seelöwenteich hinter der Bisonweide, direkt neben dem Elefantengehege. Mein Papa ist Doktor Roman Alexandrowitsch Zipit, Professor für Veterinärmedizin, Fachgebiet Neurologie der Großhirnrinde, also ein Spezialist für alles, was im Kopf der Tiere schiefgehen kann. Als ich sechseinviertel Jahre alt war, passierte mir das größte Pech. Ein Milchwagen ist von hinten in mich reingerumst. Hat mich durch die Luft gepfeffert, bis ich auf den Boden geknallt bin, kopfvoran aufs Kopfsteinpflaster. Dann kam hinterrücks die Straßenbahn und ist über mich rüber. So was hinterlässt einen bleibenden Eindruck.
Ich möchte Ihnen erzählen, wie ich einmal ein paar Wochen im Zentrum der Macht verbracht habe. Es waren höchst vertrauliche Angelegenheiten und dubiose Ereignisse, die zu düsteren Geschehnissen führten. Geheimnisse versteckt in der Geschichte. Ich baue auf Ihr Schweigen. Außerdem will ich Sie beschützen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit. Also, psssst.«"

Quelle: https://www.kiwi-verlag.de/buch/guten-morgen-genosse-elefant/978-3-462-05076-9/


Über das Buch:


Verlag: Kiepenheuer&Witsch
Titel der Originalausgabe: The Zoo
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
ISBN: 978-3-462-05076-9
Erschienen am: 16.08.2018
272 Seiten, gebunden mit SU
19,00 €

 


 



Freitag, 23. November 2018

Tim Parks - In Extremis






Warum es sich zu lesen lohnt:

 

Thomas Sanders, 57 Jahre alt, geschieden und mit einer fast 30 Jahre jüngeren Frau zusammen, ist der Protagonist des Buches. Wir dürfen ihn in seinem Leben ein paar Tage begleiten. Es sind jene Tage, an denen seine Mutter im Sterben liegt.

Zu Beginn wird gleich der skurrile Aspekt des Buches deutlich, denn Thomas befindet sich auf einem Kongress zum Thema "Heilung von Beckenbodenschwäche bei Männern mittels eines Analmassagestabs", als ihn die sms seiner Schwester erreicht, dass er nach England kommen müsse, weil seine Mutter im Sterben läge. Herrlich komisch erzählt Thomas, wie er auf der Konferenz von seiner Heilung spricht und schließlich sogar eine Behandlung mit dem Zauberstab bekommt, die jedoch zu einer Verschlimmerung seiner Schmerzen führt.

Doch das Buch ist nicht nur skurril, es zeigt auch die Gedanken und Gefühle eines Mannes Ende 50, der sich von seiner Mutter verabschieden muss. Thomas kommt aus einem sehr gläubigen Elternhaus, der Vater war Pastor, die Mutter zutiefst gläubig. Thomas hat sehr ambivalente Gefühle zu ihr:

"Die Wahrheit ist, wenn ich meine Mutter besuchte, war ich mir nie ganz sicher, ob ich meine Mutter tatsächlich besuchen wollte, oder lieber nicht. Meine Mutter zu besuchen führte zu allergrößter Verwirrtheit hinsichtlich der Frage, wer ich eigentlich bin. Ich wollte sie besuchen und nicht besuchen, beides gleichzeitig."
"Zwischen mir und meiner Mutter gab es eine gewisse magische Kraft, die dafür sorgte, das vieles ungesagt blieb."

Thomas beschäftigt der Gedanke, ob er er seiner sterbenden Mutter noch sagen soll, dass er sich längst von seiner Frau getrennt hat und nun mit einer viel jüngeren Frau zusammenlebt. Und immer wieder werden seine Gedankengänge durchbrochen vom vibrierenden Handy, es melden sich Freunde, die einen Rat wollen, seine Freundin, die ihn vermisst und wissen will, wie es ihm geht. Durch diese sehr realistische Beschreibung, spürt man die Überforderung von Thomas. Außerdem bekommt der/die Leser*in zunehmend mehr Informationen über Thomas Leben und seine Kindheit, das führte bei mir zu viel Nachsicht mit seinem, zum Teil etwas merkwürdigen, Verhalten.

Schließlich, nach vielem hin und her kommt die Familie am Totenbett der Mutter zusammen und der Autor zeigt spätestens hier, dass sein Buch auch eine sehr emotionale Seite berührt:

"Und so waren wir fast zwei Stunden lang auf das Sterben von Martha Sanders konzentriert. Ich kann mich nicht erinnern, jemals mit anderen Menschen, schon gar nicht mit Verwandten, so still und konzentriert zusammen gewesen zu sein, verzückt vom Phänomen ablebender Atemzüge. Und jetzt schien tatsächlich eine Schönheit im Raum zu sein; nicht Mutter, nicht wir, sondern diese gemeinsame Dämmerung der Lebenden und der Sterbenden, diese langen Pausen zwischen einem Atemzug und dem nächsten. Die langen Phasen der Stille."

Für mich war dieses Buch wegen seiner Vielseitigkeit absolut lesenswert. Obschon diese wenigen Tage im Leben von Thomas Sanders auf über 400 Seiten beschrieben sind, hat mich das Buch keine Sekunde gelangweilt, sondern glänzend unterhalten, emotional berührt und herzhaft lachen lassen.


Inhalt:


"In Extremis ist ein existenzieller Roman und gleichzeitig einer der lustigsten, der über Tod und Familie geschrieben wurde.

Thomas weiß, dass es etwas gibt, was er seiner Mutter noch sagen muss, bevor sie stirbt. Aber wird er das rechtzeitig schaffen? Und wird er den Mut haben zu sagen, was er vorher nicht sagen konnte? Sein Telefon brummt, in seinem Kopf dreht sich alles und er kann sich nicht darauf konzentrieren, was gerade passiert und worauf es ankommt. Soll er versuchen, den Familienkonflikt zu lösen, in dem sich sein Freund gerade befindet? Sollte er die Trennung von seiner Frau nochmal überdenken? Warum ist er so ungeheuer verwirrt, ja geradezu paralysiert? In diesem überaus anregenden Roman erkundet Tim Parks, wie tief unsere Identität in unserer familiären Vergangenheit wurzelt. Können wir das jemals wirklich ändern?"

Quelle: https://www.kunstmann.de/buch/tim_parks-in_extremis-9783956142529/t-0/

Über das Buch:


432 Seiten
Euro 24,00 € (D)
erschienen im September 2018
Übersetzt von Ulrike Becker
ISBN 978-3-95614-252-9
Verlag: Anje Kunstmann

 




Donnerstag, 15. November 2018

Juli Zeh - Neujahr

 

Warum es sich zu lesen lohnt:

 

Juli Zeh gelingt es in ihren Romanen immer wieder gesellschaftlich brisante Themen anzusprechen und spannend zu verpacken. Dieses Mal widmet sie sich den Themen Selbstüberforderung und Identität. Und wieder bin ich begeistert, mit welcher Meisterhaftigkeit ihr das gelingt.

Hennig und Theresa verbringen ihren Urlaub über Silvester auf Lanzarote, es war Hennigs Wunsch zu verreisen. Das Buch beschreibt seine Fahrradtour am Neujahrsmorgen auf einen Berg in Lanzarote. Seine Gedanken über sein Leben prägen die Fahrt nach oben.  Er führt das Leben eines ganz normalen Familienvaters mit zwei gesunden Kindern und seiner Frau Theresa. Einzig die Tatsache der Arbeitsteilung des Paars scheint ein wenig besonders an der Situation:
"Sie teilen sich Kinder und Beruf. Das ist ihnen wichtig. Sie haben einiges auf sich genommen, um ihr Modell bei den Arbeitgebern durchzusetzen."
Obschon sein Leben durchschnittlich scheint, leidet Hennig an Panikattacken, die er "ES" nennt. "ES" fällt ihn in allen möglichen Situationen an, wie ein wildes, unbezähmbares Tier und nimmt mit dieser Taktik einen großen Stellenwert in seinem Leben ein. Hennig ist emanzipiert, jedoch scheinbar völlig überfordert. Die Überforderung und die Panikattacken stehen in engem Zusammenhang, aber da ist scheinbar noch Etwas...

Als Hennig oben auf dem Berg ankommt, entkräftet und völlig dehydriert, wird im klar, dass er hier bereits einmal war. Im zweiten Teil des Buches wird Hennig aufgrund von Kindheitserinnerungen mit einem bisher komplett verdrängten Trauma konfrontiert. Eine grausame Erfahrung musste er als kleiner Junge, hier oben auf dem Berg, durchleben. Juli Zeh thematisiert, wie sehr Begebenheiten aus der Kindheit unser Leben prägen. Hennigs Befreiung von diesem Trauma ist klar und nachvollziehbar beschrieben, ohne utopisch zu wirken und hat mich sehr berührt.

Der neue Roman von Juli Zeh liest sich, insbesondere im zweiten Teil, wie ein Psychothriller und hat mich dennoch nachdenklich gemacht. Eine lesenswerte Mischung.


Inhalt:

"Lanzarote, am Neujahrsmorgen: Henning sitzt auf dem Fahrrad und will den Steilaufstieg nach Femés bezwingen. Seine Ausrüstung ist miserabel, das Rad zu schwer, Proviant nicht vorhanden. Während er gegen Wind und Steigung kämpft, lässt er seine Lebenssituation Revue passsieren. Eigentlich ist alles in bester Ordnung. Er hat zwei gesunde Kinder und einen passablen Job. Mit seiner Frau Theresa praktiziert er ein modernes, aufgeklärtes Familienmodell, bei dem sich die Eheleute in gleichem Maße um die Familie kümmern. Aber Henning geht es schlecht. Er lebt in einem Zustand permanenter Überforderung. Familienernährer, Ehemann, Vater – in keiner Rolle findet er sich wieder. Seit Geburt seiner Tochter leidet er unter Angstzuständen und Panikattacken, die ihn regelmäßig heimsuchen wie ein Dämon. Als Henning schließlich völlig erschöpft den Pass erreicht, trifft ihn die Erkenntnis wie ein Schlag: Er war als Kind schon einmal hier in Femés. Damals hatte sich etwas Schreckliches zugetragen - etwas so Schreckliches, dass er es bis heute verdrängt hat, weggesperrt irgendwo in den Tiefen seines Wesens. Jetzt aber stürzen die Erinnerungen auf ihn ein, und er begreift: Was seinerzeit geschah, verfolgt ihn bis heute."

Quelle: https://www.randomhouse.de/Buch/Neujahr/Juli-Zeh/Luchterhand-Literaturverlag/e529881.rhd 

Über das Buch:



Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 192 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-630-87572-9
€ 20,00 [D
Verlag: Luchterhand Literaturverlag
Erschienen: 10.09.2018

 

 


 



Mittwoch, 7. November 2018

Gianna Molinari - Hier ist noch alles möglich

 

Warum es sich zu lesen lohnt:

 

Dieses Buch hat mich etwas ratlos zurückgelassen, es war für mich schwer greifbar. Als ich heute mit einer Buchhändlerin über das Buch sprach, fragte sie mich, welchen Leser*innen sie es denn empfehlen könne. Eine weitere Kundin gesellte sich zu uns und wir sprachen dann allgemein über Bücher, in denen eigentlich wenig passiert und in denen eher die Gedanken einer Person die Handlung des Buches ausmachen. Oft sind solche Bücher sprachlich beeindruckend oder sie beschreiben eine besondere Atmosphäre, so ist es auch hier.

Der Roman handelt von einer jungen Frau, die als Eremitin in einer fast leerstehenden Fabrik lebt und arbeitet. Tag für Tag / Nacht für Nacht sitzt sie vor den Überwachungsmonitoren der Fabrik, die schon so gut wie geschlossen ist. Ein paar wenige Sätze wechselt sie mit ihrem Kollegen Clemens, ihrem Chef und dem Koch der Kantine. Ihre Gedanken drehen sich um den Wolf, der auf dem Fabrikgelände gesichtet wurde, um Grenzen und Inseln und um einen afrikanischen Flüchtling, dessen Leiche in einem Waldstück gefunden wurde und der scheinbar als blinder Passagier in einem Flugzeugfahrwerk mitgeflogen ist.

Immer wieder sind Zeichnungen im Buch zu sehen, die die Frau anfertigt und anhand derer sie ihre Gedanken zu Papier bringt. Auch Fotos sind Bestandteil des Buches. Dadurch entsteht stellenweise der Eindruck, man habe es mit ihrem Tagebuch zu tun. 

Die Frau beschäftigt sich mit Realität und Echtheit, nicht immer war mir als Leserin klar, ob sie gerade ihre Wahrheit oder ihre Phantasie beschreibt. Die leerstehende Fabrik ist für sie ein Ort, an dem verschiedene Realitäten möglich werden. Ein Ort, den sie mit ihren Gedanken füllen kann.
"Ich zweifle daran, dass die Sicherheit, in der ich lebe, der Realität entspricht. Ich sehne mich nach Unsicherheit, nach mehr Echtheit vielleicht, nach Wirklichkeit. Ich möchte unterscheiden können, was wichtig ist und was nicht. Ich möchte Teil einer Geschichte sein oder vieler Geschichten zugleich."
Ein anspruchsvolles Buch, welches viel Interpretationsspielraum zulässt. Der Titel passt so gesehen ziemlich gut.

 

Inhalt:

"Eine junge Frau wird als Nachtwächterin in einer Verpackungsfabrik eingestellt. Abend für Abend macht sie ihren Rundgang, kontrolliert die Zäune. Ein Wolf soll in das Gelände eingedrungen sein. Mit jeder Nachtschicht wird die Suche nach dem Wolf mehr zu einer Suche nach sich selbst und zur Frage nach den Grenzen, die wir ziehen, um das zu schützen, woran wir glauben."

Quelle: http://www.aufbau-verlag.de/index.php/hier-ist-noch-alles-moglich.html

 

Über das Buch:

 

Roman
Gebunden mit Schutzumschlag, 192 Seiten
Aufbau Verlag
ISBN 978-3-351-03739-0
18,00 €