Sonntag, 2. Mai 2021

Juli Zeh - Über Menschen

 

Warum es sich zu lesen lohnt:

Juli Zeh ist so verdammt klug und ich habe nahezu jedes Buch von ihr gelesen. Auf dieses war ich deswegen besonders gespannt, weil es brandaktuell ist und die Coronapandemie thematisiert. 

Dora lebt, gemeinsam mit ihrem Partner Robert, in Berlin. Zu Beginn des Lockdowns wird ihr Robert immer fremder. Schon zuvor fand sie seinen überambitionierten Klimaschutzaktivismus anstrengend, durch Corona wurde das Zusammenleben unerträglich, weil Robert die Maßnahmen so ernst nahm, dass er Dora am liebsten verboten hätte das Haus zu verlassen.

"Was war aus der Gewissheit geworden, dass es keine absoluten Gewissheiten gibt, weshalb an allem gezweifelt, über alles gesprochen und gestritten werden muss? Dora verstand nicht, woher Robert das sichere Gefühl für die Überlegenheit seines Lebensstils nahm."
Schließlich kauft sich Dora ein verlassenes Haus auf dem Land, trennt sich von Robert und zieht raus aus der Stadt, rein in die Provinz. In diesem kleinen Dorf muss Dora die Erfahrung machen, dass Haltungen, politische Gesinnung und Überzeugungen nur noch sehr wenig zählen, wenn plötzlich ein Mensch vor einem steht und man (weil es der neue Nachbar ist) Einblick in sein Leben erhält und ihn kennen lernt. Der neue Nachbar stellt sich als Dorfnazi vor, allein das ist für Dora ein Grund ab sofort kein Wort mehr mit ihm zu sprechen. Aber genau jener Nachbar hat auch eine andere Seite, eine liebenswerte Seite. Dora ist innerlich zerrissen. Sie kann seine Weltanschauung nicht akzeptieren, aber vielleicht kann sie sie tolerieren, weil sie einen Blick hinter die Kulissen (in diesem Fall die Mauer, die die beiden Grundstücke voneinander trennt) wirft.

"In Zeiten von George Floyd geht sie mit einem Nazi zum Fest. Es gelingt ihr einfach nicht, eine Haltung zu finden. Vielleicht, denkt Dora, ist das Einnehmen von Haltungen nur so lange richtig und wichtig, wie man die Dinge aus sicherer Distanz betrachte."
Die Distanz kann Dora zunehmend weniger wahren, weil sie schnell Teil des Dorfes wird, sich um die Tochter des Dorfnazis Gote kümmert und eine schmerzhafte Erfahrung über die Zerbrechlichkeit des Lebens machen muss. Juli Zeh zeigt in ihrem Roman, dass es nicht nur Schwarz und Weiß gibt, sondern so viel dazwischen. Es gibt nicht die eine Wahrheit, sondern so viele Wahrheiten.

"Alles wirbelt durcheinander wie Teile eines Puzzles, das jemand mutwillig in die Luft geworfen hat. Dora bekommt kein klares Bild vor Augen. Ihr fehlt der Standpunkt. Ohne Standpunkt gibt es keine Ordnung. Ohne Standpunkt bleibt die Welt chaotisch und unverständlich, und das schmerzt so sehr, dass sie es kaum ertragen kann. Also tut sie, was alle Verwirrten in orientierungslosen Zeiten tun: Sie sucht Wahrheit in Information."

Dora muss sich hinterfragen und merkt, wie anstrengend es ist, wenn die eigenen Vorstellungen und Haltungen auf den Kopf gestellt werden:

"Sie hat angefangen, sich zu fragen, was andere Menschen wählen. Was in den Geheimkammern ihrer Gehirne vor sich geht, während sie ihre Kinder abholen oder einkaufen fahren. Fest steht, dass alle Angst haben und dabei meinen, dass nur die eigene Angst die richtige sei. Die einen fürchten sich vor Überfremdung, die anderen vor der Klimakatastrophe. Die einen vor Pandemien, die anderen vor der Gesundheitsdiktatur. Dora fürchtet, dass die Demokratie am Kampf der Ängste zerbricht. Und genau wie alle anderen glaubt sie, dass alle anderen verrückt geworden sind. Das ist so verdammt anstrengend. Wie viel einfacher wäre es, eine Seite zu wählen."
Wie auch in ihrem Roman "Unter Leuten" gelingt es der Autorin, dass sich  die Geschehnisse im Dorf auf die gesamte Gesellschaft übertragen lassen. Das macht das Buch für mich so grandios und lesenswert, besonders in dieser Zeit, wo wir intensiv damit konfrontiert werden, dass es mehr als eine Wahrheit gibt und wir das "Nichtwissen" aushalten müssen. 

Inhalt:

"Dora ist mit ihrer kleinen Hündin aufs Land gezogen. Sie brauchte dringend einen Tapetenwechsel, mehr Freiheit, Raum zum Atmen. Aber ganz so idyllisch wie gedacht ist Bracken, das kleine Dorf im brandenburgischen Nirgendwo, nicht. In Doras Haus gibt es noch keine Möbel, der Garten gleicht einer Wildnis, und die Busverbindung in die Kreisstadt ist ein Witz. Vor allem aber verbirgt sich hinter der hohen Gartenmauer ein Nachbar, der mit kahlrasiertem Kopf und rechten Sprüchen sämtlichen Vorurteilen zu entsprechen scheint. Geflohen vor dem Lockdown in der Großstadt muss Dora sich fragen, was sie in dieser anarchischen Leere sucht: Abstand von Robert, ihrem Freund, der ihr in seinem verbissenen Klimaaktivismus immer fremder wird? Zuflucht wegen der inneren Unruhe, die sie nachts nicht mehr schlafen lässt? Antwort auf die Frage, wann die Welt eigentlich so durcheinandergeraten ist? Während Dora noch versucht, die eigenen Gedanken und Dämonen in Schach zu halten, geschehen in ihrer unmittelbaren Nähe Dinge, mit denen sie nicht rechnen konnte. Ihr zeigen sich Menschen, die in kein Raster passen, ihre Vorstellungen und ihr bisheriges Leben aufs Massivste herausfordern und sie etwas erfahren lassen, von dem sie niemals gedacht hätte, dass sie es sucht.

Juli Zehs neuer Roman erzählt von unserer unmittelbaren Gegenwart, von unseren Befangenheiten, Schwächen und Ängsten, und er erzählt von unseren Stärken, die zum Vorschein kommen, wenn wir uns trauen, Menschen zu sein."
 

Über das Buch:

 

Hardcover mit Schutzumschlag, 416 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-630-87667-2
Erschienen am  22. März 2021 
Verlag: Luchterhand
22,00 €