Sonntag, 11. Oktober 2020

Benjamin Myers - Offene See

Warum es sich zu lesen lohnt:


Der zweite Weltkrieg ist zu Ende, Robert hat endlich die langweilige Schulzeit hinter sich gebracht und soll nun, wie alle Männer in seiner Familie, Bergarbeiter werden. Aber Robert ist anders - er will das Meer sehen  und sehnt sich nach Freiheit und so tritt er eine große Reise an. Zu Fuss macht er sich auf den Weg in den Süden Englands. Er wird eins mit der Natur und lebt im Hier und Jetzt. Auf seiner Reise trifft er schließlich die unkonventionelle und kluge ältere Dame Dulcie, sie verändert sein Leben für immer.

Die detaillierten Naturbeschreibungen des Autors sind wortgewaltig und schön zu lesen. Besonders hat mich aber die Begegnung von Robert und Dulcie fasziniert. Die Dialoge, die köstlichen Mahlzeiten, die sie zubereitet und ihre Gedanken über das Leben sind großartig. Noch nie ist Robert einer solchen Frau begegnet:
„Noch wichtiger war der hartnäckige Gedanke, dass Dulcie mich auf eine Art wahrgenommen hatte, die gänzlich unbeeinflusst war von Vertrautheit, Geschichte oder Erwartungen. Das heißt, sie hatte mich einfach so genommen, wie sie mich kennengelernt hatte, und, mehr noch, sie hatte es für angebracht gehalten, mich wie jemanden zu behandeln, der ihre Aufmerksamkeit wert war – nicht ganz auf Augenhöhe, denn sie war offensichtlich ein kluger, weltgewandter und geistreicher Mensch, was man von mir nun nicht gerade behaupten konnte. Dennoch hatte ich in unserer kurzen gemeinsamen Zeit das Gefühl gehabt, als würde ich zu jemand anderem. Dass ich mich mir selbst annäherte, anstatt der Mensch zu sein, als der ich bislang gelebt hatte. Dulcie hatte mich gesehen, wie ich war, und war nicht gelangweilt oder desinteressiert gewesen.“
Die beiden sehr unterschiedlichen Menschen retten sich gegenseitig. Dulcie zeigt Robert eine Welt voller Kultur, Genuss und Wissen, abseits der gesellschaftlichen Konventionen. Robert bringt Dulcie dazu, ein trauriges Ereignis aufzuarbeiten, welches sie versucht hat zu verdrängen. Die Geschichte ist zwar ein wenig absehbar, aber in so wundervollen Worten erzählt, dass ich das Buch verschlungen habe. Und jetzt mag ich am liebsten Dulcie in ihrem Cottage besuchen und mit ihr ihr selbstgebackenes Brot mit Bärlauchbutter essen und dazu jede Menge Wein trinken und über das Leben philosophieren. Welch ein tolles, sinnliches Buch!


Inhalt:

 

"Der junge Robert weiß schon früh, dass er wie alle Männer seiner Familie Bergarbeiter sein wird. Dabei ist ihm Enge ein Graus. Er liebt Natur und Bewegung, sehnt sich nach der Weite des Meeres. Daher beschließt er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sich zum Ort seiner Sehnsucht, der offenen See, aufzumachen. Fast am Ziel angekommen, lernt er eine ältere Frau kennen, die ihn auf eine Tasse Tee in ihr leicht heruntergekommenes Cottage einlädt. Eine Frau wie Dulcie hat er noch nie getroffen: unverheiratet, allein lebend, unkonventionell, mit sehr klaren und für ihn unerhörten Ansichten zu Ehe, Familie und Religion. Aus dem Nachmittag wird ein längerer Aufenthalt, und Robert lernt eine ihm vollkommen unbekannte Welt kennen. In den Gesprächen mit Dulcie wandelt sich sein von den Eltern geprägter Blick auf das Leben. Als Dank für ihre Großzügigkeit bietet er ihr seine Hilfe rund um das Cottage an. Doch als er eine wild wuchernde Hecke stutzen will, um den Blick auf das Meer freizulegen, verbietet sie das barsch. Ebenso ablehnend reagiert sie auf ein Manuskript mit Gedichten, das Robert findet. Gedichte, die Dulcie gewidmet sind, die sie aber auf keinen Fall lesen will."

 

 

Über das Buch:

 
Roman
270 Seiten
Originalverlag: Bloomsbury Circus, London 2019, 
Originaltitel: The Offing 
Erscheinungstag: 20.03.2020
ISBN 978-3-8321-8119-2 
Verlag: Dumont Verlag